Rüdiger Lötzer untersucht faktenreich und mit dem Fokus auf den Regelsatz, die Geschichte der aktuellen Debatte um eine angemessene Grundsicherung. Ob dereinst die „römische Dekadenz“ von der FDP ins Spiel gebracht wurde oder heute wieder die „Hängematten“ in allen Spielarten von Bundeskanzler Merz & Co aufgerufen werden, in denen sich Menschen ohne bezahlten Job legen würden, die Politik der sozialen Polarisierung ist leider alles andere als neu. Sie trifft diejenigen am härtesten, die die Solidarität in der Gesellschaft am nötigsten haben und sie versucht, Arbeitslose und Beschäftigte gegeneinander auszuspielen, obwohl sie von dieser unsozialen Politik gleichermaßen betroffen sind.
Diese Wortmeldung ist der erste Teil einer Reihe von Beiträgen und Veranstaltungen zur Kritik der Bürgergeld-Politik der Bundesregierung und zu Alternativen, die gemeinsam von Elke Breitenbach, Kai Lindemann, Regine Sommer-Wetter und Rüdiger Lötzer gestaltet werden.
Der Streit zwischen Regierung und Zivilgesellschaft über die Frage, was eine menschenwürdige Grundsicherung ausmacht oder ausmachen sollte, bricht spätestens seit der Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung unter dem damaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Grünen Vizekanzler Joschka Fischer immer wieder auf. So auch jetzt, nachdem CDU-Kanzler Friedrich Merz die Arbeitslosen, speziell diejenigen, die Grundsicherung beziehen, also in der Regel mehr als ein Jahr arbeitslos sind, wieder als angebliche Faulenzer der Nation entdeckt hat und „Einsparungen“ beim Bürgergeld in zweistelliger Milliardenhöhe versprach. Herausgekommen ist aktuell eine „neue Grundsicherung“, von der bisher nur Referentenentwürfe aus dem Bundesarbeitsministerium herumgeistern, die aber, so die Ankündigung von Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), nur wenige Millionen Euro „Einsparungen“ bringen wird – wenn überhaupt. Frau Bas hat allerdings schon eine erhebliche Reduzierung der Grundsicherung auf den Weg gebracht – indem sie Mitte 2025 verkündete, dass der seit 1. Januar 2024 geltende Regelsatz beim Bürgergeld von 563 Euro für eine erwachsene Person bis 31.12.2026, also drei Jahre lang unverändert gültig bleibt – gleichgültig, dass sich seitdem die Lebenshaltungskosten um etwa 10 Prozent, bei einzelnen Lebensmitteln noch viel mehr erhöht haben bzw. erhöhen werden.
2004. Der Einstieg der Regierung Schröder/Fischer: 345 Euro ALG II
Im Sommer 2004 trat die berüchtigte „Agenda 2010“ trotz großer Proteste in der Öffentlichkeit in Kraft. Die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), bis 2005 auch zuständig für soziale Sicherungen, leitete darauf im Mai 2004 dem Bundesrat die „Verordnung der neuen Regelsatzverordnung“ zu, die dieser ohne Wortmeldung passieren ließ. Damit trat sie in Kraft. Der damit verbundene Warenkorb, der für eine erwachsene alleinstehende Person als ausreichend betrachtet wurde, sah so aus:
132,71 Euro im Monat für Nahrungsmittel, Getränke, Tabak (umgerechnet 4,42 Euro am Tag)
34,26 Euro für Bekleidung und Schuhe, inkl. Reinigung und Reparaturen
25,93 Euro für Wohnungsrenovierung und Strom
27,70 Euro für Möbel, Teppiche, Kühlschrank, Waschmaschine, Geschirr, Glühlampen etc.
13,17 Euro für Medikamente und Arztbesuche
19,20 Euro für Fahrtkosten im ÖPNV, Fahrrad etc.
22,37 Euro für Telefon, Internet, Postkarten, Briefporto
39,48 Euro für Freizeit, Kultur, Unterhaltung, Bücher
20,13 Euro für „andere Waren und Dienstleistungen“ wie Friseur, Kontogebühren etc.
All das, wohlgemerkt, nur für „Westdeutsche“. Ostdeutsche bekamen wegen des angeblich niedrigeren Preisniveaus 4 Prozent weniger, nur 331 Euro im Monat. Bezieher der damals „neuen Grundsicherung“ waren damals 2,86 Millionen sog. „Bedarfsgemeinschaften“ mit ungefähr 6 Millionen Personen.
Die PDS veröffentlichte im Auftrag ihrer Landtagsfraktionen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen ein Gutachten des Berliner Anwalts Ulf Wende, der diesen Regelsatz als mehrfach verfassungswidrig einstufte. Der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte eine Anhebung der Regelätze für West und Ost auf 412 Euro. So viel zur Ausgangslage der heutigen Debatte vor mehr als 21 Jahren.
Die Teuerung seit 2004 und die aktuellen Regelsätze
Inzwischen hat sich vieles getan. Das Bundesverfassungsgericht hat Urteile zum „menschenwürdigen Minimum“ getroffen (u.a. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09 vom 9.10.2010), die insbesondere den bei Regelverstößen angewendeten „Sanktionen“ enge Grenzen setzten. Auch andere Regelungen wurden geändert. Seit 1.1.2024 galt das von der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP beschlossene „Bürgergeld“ in Höhe von 563 Euro im Monat, das nun nach den Angriffen von CDU, CSU und AfD erneut geändert werden soll, wenn es nach der AfD geht, nur noch für deutsche Staatsangehörige, für Zugewanderte frühestens nach 10 Jahren Aufenthalt – aber diesen braunen Müll wollen wir hier nicht weiter beachten.
Vor allem eins hat sich seit 2004 geändert – das Leben ist deutlich teurer geworden. Erfasst wird dieser Anstieg der Lebenshaltungskosten jeden Monat vom Statistischen Bundesamt (www.destatis.de) im sogenannten „Verbraucherpreisindex“. Danach stiegen die Lebenshaltungskosten von 2004 bis September 2025 um durchschnittlich 54,8 Prozent. Durchschnittlich bedeutet: Vom Kaugummi bis zum Pelzmantel, vom Fahrrad bis zum Maserati. In unteren Einkommenszonen liegt diese Teuerung in der Regel höher. Aber amtlich erfasst wird nun mal der Verbraucherpreisindex. Genauere Daten gibt es nur unregelmäßig, wenn das Amt „Verbrauchsstichproben“ macht und erhebt, welche Verbrauchsgewohnheiten sich geändert haben, was wg. technologischen und kulturellen Entwicklungen heute nicht mehr konsumiert wird, was neu usw.
Aber zurück zum Verbraucherpreisindex. 54,8 Prozent mehr bis September 2025, plus geschätzt ca. 4 Prozent mehr bis Ende 2026 (so lange gelten die derzeitigen Regelsätze von 563 Euro im Monat) macht zusammen eine Teuerung von 61 Prozent. 61 Prozent mehr auf die 2004 beschlossenen Regelsätze des ALG II von 349 Euro macht 562 Euro. Also exakt der Satz, den Frau Bas bereits beschlossen hat. Zu Recht wird ihr also vorgeworfen: Die angeblich „neue“ Grundsicherung ist – jedenfalls beim Regelsatz – nichts anderes als die Rückkehr zu Hartz IV aus 2004. Punktlandung im alten Elend.
Zum gleichen Ergebnis kommt auch der langjährige Präsident des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Ulrich Schneider, in einer Ende 2024 veröffentlichten Studie für die Rosa-Luxemburg-Stiftung über „Mythen und Fakten zum Bürgergeld“ („Unsere soziale Hängematte“). Der Regelsatz von 563 Euro bedeutet für einen alleinstehenden Erwachsenen umgerechnet 6,50 Euro am Tag für Ernährung, für ein Schulkind 5,03 Euro. Für Bekleidung bleibt bei dem Satz für ein Schulkind 47 Euro im Monat. Für Friseurbesuche gibt es 2,50 Euro im Monat für Erwachsene, für Verkehr 50,41 Euro – weniger als ein Deutschlandticket.
Fazit: Der Regelsatz von 563 Euro ist heute so wenig ausreichend für ein menschenwürdiges Existenzminimum wie 2004 der damalige Hartz-IV-Regelsatz von 349 Euro.
2004 forderte deshalb der Paritätische Wohlfahrtsverband bereits eine Anhebung der Regelsätze auf mindestens 412 Euro. Umgerechnet auf heute wären das 663 Euro im Monat. 100 Euro mehr als bei Frau Bas, jeden Monat. Und immer noch deutlich weniger als das Nettoeinkommen jedes Berufstätigen. Das sogenannte „Abstandsgebot“ ist auch bei so einem Regelsatz gewahrt. Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert heute übrigens, so die schon genannte Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf Basis eigener Definitionen eines menschenwürdigen Warenkorbs sogar einen monatlichen Regelsatz von 813 Euro.
Ein Alternativvorschlag der Diakonie Deutschland
Einen dritten Vorschlag, dem auch der Verfasser dieser Wortmeldung zustimmt, veröffentlichte im September 2021 die Diakonie Deutschland. In einer 50-seitigen Studie erläuterten Dr. Irene Becher (Empirische Verteilungsforschung) und Dr. Benjamin Held (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST e.V.) eine Alternative zum bisherigen gesetzlichen Verfahren. Auf Basis von „normativen Vorgaben“, also ethischen Überlegungen und auf Basis der „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“ der Statistischen Bundesamts aus 2018 kommen sie zu dem Ergebnis, dass schon 2020 für eine erwachsene, alleinstehende Person ein Regelsatz von 579 Euro angemessen war. Nimmt man diesen Regelsatz von 2020 und multipliziert ihn mit dem Anstieg der Lebenshaltungskosten, ergäbe das einen Regelsatz von 738 Euro im Monat für Dezember 2026, 175 Euro im Monat mehr als das jetzt von der Bundesregierung bis Ende 2026 festgeschriebene Minimum.
Das Ergebnis: 563 Euro sind nicht menschenwürdig
Zwischen 663 Euro, 738 Euro oder 813 Euro muss also nach Einschätzung von Wissenschaftlern, der Diakonie Deutschland und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes spätestens im kommenden Jahr ein Regelsatz liegen, der ein menschenwürdiges Minimum für eine alleinstehende, erwachsene Person sicherstellt. Das ist eine große Bandbreite. Aber sie liegt in allen Fällen oberhalb dessen, was die Bundesregierung beschlossen hat und als „neue Grundsicherung“ auf den Weg bringen will. Spätestens im Sommer 2026, so der derzeit bekannte Zeitplan, soll das Gesetzespaket durch Bundeskabinett, Bundestag und Bundesrat gebracht sein.
Die Studie der Diakonie über eine alternative Regelbedarfs-Bemessung findet sich hier.
____________________
Rüdiger Lötzer war seit 2003 Arbeitslosenberater bei der IG Metall in Berlin. Von 2004 bis 2018 war er als Arbeitsnehmervertreter der IG Metall in mehreren Jobcenter-Beiräten und Verwaltungsausschüssen der Agentur für Arbeit in Berlin tätig. 2016 – 2024 war er Vorsitzender des Sozialausschusses im Bezirksparlament von Berlin-Mitte.



