Mut statt Angst – Für eine erkennbare, demokratische, moderne Linke in Deutschland und Europa!
Liebe Genoss*innen des Parteivorstandes der Partei Die Linke,
die Ergebnisse der Wahl zum Europäischen Parlament haben endgültig klargemacht, dass Die Linke nicht so weiter machen kann, wie in den letzten Jahren. Die immer wieder verschobene und umgangene inhaltliche Erneuerung ist unausweichlich. Als Mitglieder des Netzwerkes Progressive Linke haben wir uns erneut und intensiv mit dieser unhaltbaren Situation und den jetzt einzuleitenden Konsequenzen beschäftigt. Im Folgenden wollen wir euch unsere Gedanken dazu mitteilen und zu einer Debatte einladen. Wir werden diese Debatte öffentlich führen und suchen dazu auch mit euch das Gespräch, in welcher Weise der Bundesparteitag im Oktober hier eine erste Etappe markieren kann und muss.
- Die Linke muss sich entscheiden
Eine ins Stottern geratene, krisenanfällige ökonomische Globalisierung, Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen in einer multipolaren Welt, wachsende Verteilungsungleichheit und offene Gerechtigkeitskonflikte, der beschleunigte, menschgemachte Klimawandel und seine Folgen, zunehmende Migrationsbewegungen nach Europa, Digitalisierung von Kapitalreproduktion, Arbeit und Gesellschaft werfen am Anfang des 21. Jahrhunderts zentrale gesellschaftspolitische Fragen und Konflikte auf, zu denen sich alle Gesellschaften verhalten müssen und angesichts derer in allen Gesellschaften über Weichenstellungen verhandelt wird. Demokratische politische Parteien sind gefordert, in dieser Auseinandersetzung wahrnehmbar und erkennbar zu sein und in sie einzugreifen.
Mit dem Versuch, sich aus diesen Weichenstellungen als Gesamtpartei herauszuhalten, sich auf die Warnung vor dem Rechtsruck und das immer noch vorhandene soziale Image zu beschränken, ist Die Linke bei den Europawahlen erneut und dramatisch gescheitert. Scheitern muss auch der Versuch, die Partei durch diese gewollte Nichterkennbarkeit zusammenzuhalten. Zwar ist der Ton seit der Abspaltung des BSW-Flügels weniger schrill und gewollt verletzend geworden, aber die Identifikation und Motivation der Mitglieder kann durch das inhaltliche Wegtauchen nicht hergestellt werden. Wenn sich die Partei nicht entscheidet, entscheiden sich Wähler*innen und Mitglieder. Die innere Emigration aus der Linken, sei es durch Nichtwählen oder durch den Versuch, ohne Bundespartei klarzukommen, ist zum Dauerzustand geworden.
Diese Entwicklung hat eine lange Vorgeschichte. Zu zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre hatte Die Linke keine klaren, überzeugenden, umsetzbaren und gemeinsam vertretenen Positionen anzubieten, war Objekt und nicht Akteur dieser Auseinandersetzungen. Das galt und gilt für die Fluchtkrise 2015/16, die Covid-19-Pandemie, die Konflikte durch das stark verkürzte Zeitfenster für das Verhindern der Klimakatastrophe, den Ukrainekrieg, die Energiepreiskrise, die aktuelle Wachstums- und Investitionskrise. Angesichts der wahlentscheidenden Themen bei der Europawahl (Friedenssicherung in Europa, soziale Sicherheit, Zuwanderung, Klimaschutz, Wirtschaftswachstum) wird deutlich, dass eine alleinige Fokussierung auf Umverteilung und öffentliche Daseinsvorsorge nicht ausreicht. Nicht-Antworten können nicht überzeugen, noch viel weniger motivieren oder begeistern.
Immer mehr Menschen wird klar: Es gibt nur einen Planeten Erde, auf dem mehr als 8 Milliarden Menschen leben, überleben, elementare Sicherheiten und eine Perspektive wollen. Seine Ressourcen und Belastbarkeiten sind begrenzt, alle haben den gleichen Anspruch darauf und alle haben die gleiche Verantwortung dafür, diese Grenzen zu respektieren (wenn auch nicht dieselben Möglichkeiten). Die Lebensräume auf unserem Planeten sind existenziell bedroht. Dieses planetare Paradigma zwingt zu einer Debatte darüber, ob und welche Politik des „Wohlstandes für alle“ möglich ist; ob und wie unter den bestehenden Bedingungen von Knappheit und Ungleichheit eine auf Kooperation, Frieden, Zivilität basierende Weltordnung vorangebracht werden kann und welche sicherheitspolitischen Voraussetzungen sie hat; ob und womit der globalen Tendenz, statt auf Demokratie und Solidarität auf Nationalismus, Gewalt und Krieg zu setzen, entgegengetreten werden kann.
Diese Fragen stehen nicht vor der Tür, wir sind mittendrin. Die Veränderungen sind längst Umsetzungsfragen geworden, die tief in die gewohnte Lebensweise und die erlernten Reproduktionsmuster der Gesellschaft eingreifen. Veränderung macht vielen Menschen Angst und schafft Verunsicherung. Es stellen sich Verteilungs- und Gleichheitsfragen, denn Veränderungen sind niemals „kostenneutral“. Rechtsextreme und rechtskonservative Kräfte mobilisieren rechtextremistische und rassistische Einstellungen, nutzen dieses politische Klima und die Veränderungen, die bisher von unsozialer Lastenverteilung begleitet wurde, und verschieben das politische Spektrum insgesamt nach rechts, bis hin zum Angriff auf demokratische Rechte und Institutionen. Die Veränderungen, Ängste und Verunsicherungen führen in Deutschland und Europa zu einer nachhaltigen Neuformierung der Parteienlandschaft, die alle Parteien erfasst. Häufig genug geben sie in zentralen Fragen dem Druck nach „rechts“ nach.
Was setzt die gesellschaftliche und die parteiförmig organisierte Linke dem entgegen? Eigentlich müsste sie um politische Mehrheiten ringen, um die Demokratie und ihre Errungenschaften zu verteidigen und auszubauen, fortschrittliche Veränderungen zu beschleunigen und dabei sozialen Ausgleich zu gewährleisten. Sie müsste ein linkes Gegenprogramm zu den vermeintlichen Lösungsangeboten der Rechten aufbieten, das zu den gesellschaftlichen Weichenstellungen Stellung nimmt, um die gesellschaftliche Hegemonie kämpfen, wie diese Weichenstellungen beantwortet werden, und dafür auf allen Ebenen eintreten und mobilisieren. Sie müsste aufzeigen, an welche strukturellen und systematischen Grenzen die bestehende Wirtschafts- und Eigentumsordnung dabei stößt, und wie diese Grenzen verschoben und überwunden werden können. Keine der sich selbst als „links“ definierenden Parteien in Deutschland kommt zurzeit dieser Verantwortung nach.
Die Linke ist durch den Kurs des „Hufeisens“ in der untergegangenen Bundestagfraktion und der politischen Beliebigkeit in der Bundespartei an die Grenze ihrer Überlebensfähigkeit gekommen. Die Abspaltung des BSW, als letztes Aufgebot eines Kurses der opportunistischen Anpassung an den Rechtsruck, hat nur in Ansätzen zur Klärung geführt. Der Europawahlkampf war zwar der erste seit Jahren, bei dem die Zerstörung der Partei nicht aus den eigenen Reihen betrieben wurde, und bei dem unsere Grundsätze zu Migration, Klimaschutz und Demokratie gemeinsam vertreten wurden. Die Diskussion nach der Wahl ist jedoch bereits wieder stark von der Neigung des Ausweichens bestimmt. Wir sind nicht gegen Debatten zu Mandatszeitbegrenzungen, Abgaben von Abgeordneten, mit denen die Partei Hilfsfonds betreibt u.ä. Dabei geht es jedoch bestenfalls um Haltungsnoten, unsere inhaltlichen Defizite beheben diese nicht. Es ist schwer vorstellbar, dass solche Aktivitäten für eine relevante Zahl von Wähler*innen den Ausschlag geben. Dem Parteivorsitzenden ist zuzustimmen, wenn er ein „Rebranding“ für Die Linke fordert. Das erfordert aber den Bruch mit der langjährigen Praxis, Unklarheit und Widersprüchlichkeit auszusitzen und die Partei profilieren zu wollen, indem sie sich aus den drängenden gesellschaftlichen Debatten heraushält. Die Europawahlen haben gezeigt, dass Linksparteien in Europa erfolgreich sein können, wenn sie sich verändern, modernisieren und klar positionieren.
Diese Klarheit fordern wir auch für Die Linke ein. Wir wollen inhaltliche Entscheidungen zu unseren Positionen in den wesentlichen strittigen Fragen; Klarheit darüber, in welchen Lagern die Partei in den zentralen gesellschafts-politischen Konflikten steht; welche Funktion Die Linke im politischen und Parteiensystem erfüllen will, mit wem sie gemeinsam für welche politischen Ziele eintreten will, welche konkreten Umsetzungsperspektiven sie anbietet. Wir werden uns dafür einsetzen, dass der kommende Bundesparteitag dazu Auskunft gibt und den weiteren Weg zu einer modernen, fortschrittlichen Linkspartei unmissverständlich markiert.
1. Eine moderne Linkspartei ist demokratisch
Ohne Zweifel kommt der politischen Linken eine wesentliche, ja entscheidende Rolle für die Verteidigung von Demokratie und sozialen Errungenschaften zu. Ebenso zweifellos hat sie dabei historisch immer wieder auch schwer versagt. Dieses doppelte Misstrauen schlägt der Linken auch heute entgegen. Einerseits wird ihr nicht zugetraut, sich wirklich konsequent für die Verteidigung von demokratischen Institutionen, demokratischen Rechten und Prinzipien einzusetzen. Andererseits wird ihr vorgeworfen, soziale Interessen zu verraten, wenn sie für Universalismus, Inklusion und Pluralität eintritt.
Dieses Misstrauen, das auf historische Erfahrung verweist, lässt sich nicht deklamatorisch überwinden. Die kritischen Fragen an die historische und aktuelle Funktion der politischen Linken lassen sich weder mit einem abstrakten Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus noch mit immer neuen Bindestrich-Sozialismen („demokratisch-ökologisch-feministisch-xxx“) auflösen. Sie müssen beantwortet werden.
Eine demokratische Linke kommt aus der Tradition von Aufklärung und sozialistischer Bewegung und verteidigt deren, in harten Kämpfen errungenes, Erbe. Damit ist aber bereits ein Spannungsverhältnis benannt, aus dem erst die heutige Vorstellung von Demokratie (mit ihren politischen und sozialen Mindestansprüchen) sich entwickelt hat. Die aus der Aufklärung geborenen demokratischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts waren nicht universal und inklusiv, sondern auch ausschließend. Dagegen revoltierten die Sklaven in Haiti ebenso wie die Frauenbewegung und die entstehende Arbeiter:innenklasse. Beim Kampf um die politische und soziale Demokratie kam der sozialistisch-sozialdemokratischen Arbeiter:innenbewegung eine zentrale Rolle zu, mit den bekannten ungleichen Ergebnissen des 20.Jahrhunderts: Parlamentarische Demokratien mit kapitalistischer Eigentumsordnung und wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und Umverteilungssystemen, kommunistische Parteidiktaturen im Namen der Arbeiterklasse, ausgeschlossene und abhängige Regionen im globalen Süden.
Diese Weltordnung ist heute weitgehend Geschichte. Aber die Versuche, politische Demokratie, soziale Errungenschaften und universale Gleichheit gegeneinander auszuspielen und zu relativieren, sind es nicht. Die globale Rechte will politische Demokratie und jedweden universalistischen Anspruch schleifen, weil sich nur so die sozialen Errungenschaften nationaler Gruppen verteidigen ließen. Der Mainstream der westlichen Staaten predigt sozialen Verzicht und sucht nach einer Lösung der globalen Menschheitsherausforderungen, die mit dem Erhalt bisheriger Privilegien und kapitalistischer Profitinteressen kompatibel ist. Autoritäre Staaten und Milizen stilisieren Unterdrückung, zwischenstaatliche Gewalt und Vernichtungsphantasien zum legitimen Widerstand und zur kulturellen Selbstbehauptung.
In dieser Situation muss die politische Linke klar sein: Es gibt keine versteckten Sympathien für das Autoritäre. Dem tief verankerten Zweifel vieler Menschen an der Demokratiefähigkeit aller Kräfte, die den Kapitalismus zugunsten einer anderen Wirtschaftsordnung überwinden wollen, lässt sich nur durch die eindeutige Absage an jedes Infragestellen, Relativieren oder Hintanstellen demokratischer Errungenschaften begegnen. Die kommunistische Bewegung ersetzte Demokratie, Gewaltenteilung und bürgerliches Recht durch das Konzept der historischen Mission der Arbeiter*innenklasse, ihrer Avantgarderolle und nicht zuletzt ihrer Diktatur. Dort wo kommunistische Parteien die Staatsgewalt eroberten, wurde aus der Losung „Sozialismus oder Barbarei“ relativ regelmäßig stalinistische Barbarei. Die Selbstbefreiung der Bürger*innen in Osteuropa von der Diktatur muss auch von der politischen Linken endlich angeeignet werden: Ohne universelle Menschenrechte, politische Demokratie und gesellschaftliche Pluralität gibt es keine soziale Demokratie.
Ebenso muss die Erfahrung vieler Gesellschaften weltweit angeeignet werden, die sich vom Kolonialismus emanzipierten: Ohne politische Demokratie und die Abwählbarkeit von Regierungen ist das Abkippen in neuen Autoritarismus, neue Unterdrückung, Menschenrechtsverletzung und Korruption nicht zu verhindern. Eine demokratische Linke solidarisiert sich nicht mit Diktatoren, antidemokratisch-autoritären Bewegungen, Terrororganisationen oder mit Regierungen, die Demokratieabbau betreiben. Universelle Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung, bürgerliches und internationales Recht, wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme, öffentliche Daseinsvorsorge, sowie die für die Sicherung dieser Prinzipien geschaffenen Institutionen, die diesen Kriterien verpflichtet sind, bilden progressive und zivilisatorische Errungenschaften, die nicht zur Disposition stehen.
Das Erbe von Aufklärung und sozialer Bewegung wird auch von den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften des Westens nicht verwirklicht. Zur Verwirklichung von Demokratie gehört der Prozess des immer weitergehenden Einschlusses bisher ausgeschlossener Gruppen in das Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Anerkennung und Existenzsicherung. Stattdessen stehen die Zeichen auf Abschottung. Ungleichheit wird zum Prinzip: So wie sich Europa sich gegen diejenigen abschotten will, die aus ihren Heimatländern flüchten müssen oder dort keine Perspektive für sich sehen, schotten sich die sozialen Schichten und Klassen gegeneinander ab. Soziale Mobilität findet kaum noch statt, weil die öffentlichen Systeme, die sie fördern, zu schwach sind. Damit gehen zwei konstituierende Elemente der modernen Demokratie verloren: Der universelle Bezug der Menschenrechte, und die Lockerung des Klassenprinzips als persönlicher und generationenübergreifender Ausschluss. Zugleich gelingt es nicht, wesentliche wirtschaftliche Entscheidungen (notwendige Investitionsentscheidungen, Besteuerung von Multis, Standortentscheidungen usw.) aus dem Bereich privater Verfügung in den Bereich demokratisch legitimierter Organe zu holen. Die demokratische Begrenzung von Macht und die soziale Begrenzung des Kapitalismus, als doppelte Voraussetzung von Demokratie, misslingt, weil sie nicht auf der Höhe der Zeit weiterentwickelt wird.
Die Demokratie ist nicht überholt, sie steht an einem kritischen Entwicklungspunkt. Sie muss ihre Ansprüche und den Kreis derjenigen, die gemeint sind, erneut ausdehnen, um nicht unterzugehen. Diese Weiterentwicklung kann nur gelingen, wenn die Demokratie zuallererst verteidigt wird – von links und mit Entschiedenheit. Das erfordert die Anerkennung, nicht die opportunistische Hinnahme, auch solcher demokratisch vorgebrachter Positionen, die wir ablehnen. Und die Bereitschaft mit allen Kräften politisch zusammenzuarbeiten, die bereit sind die Demokratie zu verteidigen.
2. Eine moderne Linke reagiert auf globale Veränderungen
Die heutige Stärke der Rechten ist nicht zuletzt die Folge einer Schwäche der Linken. Die Rechte hat sich auf die Veränderungen eingestellt und mobilisiert dafür, sie in ihrem Sinne zu beantworten. Sie greift das Thema auf, wie eine alte Industriegesellschaft sich in der veränderten Welt behaupten und ihren Wohlstand sichern soll, und liefert die Antwort: Durch Entsolidarisierung, Abschottung, nationalen Egoismus und Aussitzen der Klimakrise. Sie setzt bei der Intoleranz und den Unsicherheiten an, die durch Pluralisierung, Zuwanderung, Vielfalt, neue Qualifikationsanforderungen, globalen Wettbewerb ausgelöst werden, und plädiert für eine homogenisierte Gesellschaft, Statusprämien, Veränderungsstopp und eine mehr oder weniger offene Allianz mit autoritären, nichtwestlichen Großmächten. Sie schürt Ängste und nährt Illusionen. Die Linke verliert diese Auseinandersetzungen nicht in offener Feldschlacht, sondern weil sie sich ihnen, aus eigener Unsicherheit, gar nicht erst stellt.
Dafür muss die Linke ihre Weltsicht modernisieren. Sowohl der Kalte Krieg mit seiner bipolaren Ost-West-Weltordnung als auch die totale wirtschaftliche Dominanz der alten Industrieländer über den Globalen Süden gehören der Vergangenheit an. Das heutige Russland ist nicht mehr die Sowjetunion. Das heutige China ist keine verlängerte Werkbank mehr. Indien oder Brasilien sind niemandes Satelliten. Friedenssicherung durch akzeptierende Politik gegenüber einem nationalchauvinistischen Russland, wirtschaftlicher Erfolg durch die traditionelle verbrennerorientierte deutsche Autoindustrie und sozialer Respekt durch eine rückwärtsgewandte, romantisierende, nicht-plurale Leitkultur sind kein adäquater Kompass für die Welt von heute.
Aggression und Dominanzansprüche, internationale Konflikte und Kriege gehen nicht allein von der globalen Interessenpolitik der USA aus. In einer Welt mit unsicherer machtpolitischer Polarität werden Sicherheitsrisiken auch von neu aufsteigenden Großmächten (China, Indien), absteigenden Großmächten (Russland), von rivalisierenden Regionalmächten oder von nicht-staatlichen Milizen und Akteuren produziert. Friedenspolitik muss sich in dieser Situation konsequent am Völkerrecht orientieren, der zivilisatorischen Errungenschaft, die den gemeinsam anerkannten Maßstab für eine kooperative, friedliche Politik auf globaler Ebene darstellt. Das Völkerrecht als zivilisatorische Errungenschaft ist eine globale Dimension von Demokratie. Kollektive Sicherheitsarchitekturen können nur noch global gedacht und praktiziert werden, dürfen sich nicht nur an den Interessen von Großmächten orientieren und sind die Voraussetzung für eine gemeinsame Lösung der globalen Menschheitsprobleme. Erst auf dieser Grundlage sind Maximen der Entspannungspolitik (Berechenbarkeit, Vertragstreue, Transparenz, defensiv orientierte Verteidigungsfähigkeit, Akzeptanz unterschiedlicher Interessen und politischer Systeme, wirtschaftliche Kooperation) weiter wichtig und aktuell.
Wer dem Angriff der Rechten entgegentreten will, muss demokratische Errungenschaften und Institutionen verteidigen, um Mehrheiten kämpfen, sich für europäische Integration und die Stärkung der UNO einsetzen. Die europäische Integration kann, wenn sie mit dem Kampf für die universellen Menschenrechte verbunden ist, ein Modell auch für die globale Integration sein.
Eine moderne Linke setzt sich ein für eine starke Investitionslenkung, eine offene Einwanderungsgesellschaft, eine zeitgemäß veränderte Arbeitswelt, die Humanisierung der Erwerbsarbeit, eine gleichberechtigte Aufteilung und ausreichende Vergesellschaftung der Carearbeit, beschleunigte Klima-Transformation und kreditfinanzierte Übergänge. Das ist das Gegenprogramm zur rechten Orientierung – nicht nur als moralischer Anspruch, sondern als eine ernstzunehmende Strategie für eine faire, zukunftsfähige Wohlstandssicherung. Zu einem nationalstaatlichen Kapitalismus alter Schule, der unangetastete Investitions- und Eigentumsfreiheit mit lediglich mäßigenden Auflagen und staatlicher Umverteilung kombiniert, führt kein Weg zurück.
Eine moderne und globale Industriegesellschaft braucht Zuwanderung, aber sie muss eine Willkommenskultur schaffen, die auf Gleichheit, Anerkennung und Respekt gründet, und starke Integrations-, Bildungs- und Arbeitsmarktsysteme aufbauen. Mit Unterbringung und Versorgung ist es nicht getan. Die Linke muss Gerechtigkeit und Gleichheit international denken und verstehen und dafür Maßstäbe entwickeln, die auf Prozesse der Angleichung, des Ausgleichs und der Abwägung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen orientieren. Dasselbe gilt für Klimagerechtigkeit und gerechte Übergänge. Aus linker Sicht führt die Notwendigkeit, innerhalb planetarer Grenzen zu handeln, zu einer zunehmend stärkeren Einschränkung des privatkapitalistischen Akkumulationsmodells zugunsten staatlicher Investitionslenkung, was aber auch neue, erweiterte Formen von demokratischer Kontrolle, gewerkschaftlicher Mitbestimmung und gesellschaftlichem Eigentum erforderlich macht. Die „Rückkehr des Staates“ braucht mehr Demokratie, nicht weniger.
3. Eine moderne Linkspartei ist Gleichheitspartei
Gerechtigkeit ist ein schillernder Begriff, der viele Dimensionen hat, auch solche, die nicht links sind. Die politische Linke und die einkommens-, vermögens- und kontrollärmeren Gruppen der Gesellschaft sind an diesem Punkt darüber verbunden, dass beiden Gerechtigkeit im Sinne von Bedarfsorientierung und von Gleichheit besonders wichtig ist. Die politische Rechte und die bessergestellten, ressourcenstarken Gruppen vereint dagegen, dass sie unter Gerechtigkeit vor allem das Leistungsprinzip und sogar das Anrechtsprinzip (also die Legitimität angestammter Privilegien) verstehen. Darin liegt unter anderem die „Klassenbasis“ des Links-Rechts-Schemas begründet.
Die (neue) politische Rechte hat eine Debatte vom Zaun gebrochen, die das bestreitet. Sie wirft der Linken vor, sich von der Interessenvertretung für besonders stark unter Druck stehende Teile der Gesellschaft (diejenigen mit geringen bis mittleren Einkommen, niedriger bis mittlerer Qualifikation und eher traditionellen Familienverhältnissen) verabschiedet zu haben, und gemeinsame Sache mit den gesellschaftlichen Eliten zu machen bei einer Modernisierung auf Kosten derer, die dabei nicht mithalten können. Die Linke hat das mit relativ wenig Gegenwehr beantwortet – auch aus einem schlechten Gewissen heraus, weil sie die zunehmende, vieldimensionale soziale Spaltung der letzten Jahre nicht aufhalten konnte. Die Debatte hat eine gewisse Absurdität, weil sie wenig von sozialen Reformvorschlägen handelt und viel von Sprache, Kultur und Veränderungsabwehr, aber sie hat auch einen ernstzunehmenden Kern.
Im Rahmen der Neuaufstellung sind daraus mindestens drei Konsequenzen zu ziehen. Erstens: Die Linke darf diese Debatte nicht nur abwehren, sie muss sie führen, denn sie hat eine Dynamik, die für die Linke existenzbedrohend ist. Zweitens: Die Linke muss inhaltlich nachlegen. Sie muss alle Politikbereiche befragen, was sie dazu beitragen können, fortschreitende soziale Spaltung aufzuhalten und umzukehren. Pauschale Umverteilungsforderungen sind nicht genug – es muss bis auf die Konkretionsebene gehen, ob Beschäftigte mit körperlich fordernden Tätigkeiten mehr Rentenpunkte bekommen sollen; ob es gesetzliche Verpflichtungen geben soll, wie im Tarifsystem unterschiedliche Tätigkeiten und Qualifikationsarten bewertet werden; wie die kompensatorische Funktion des Bildungssystems so gestärkt werden kann, dass sie mit der enorm gestiegenen Bedeutung des häuslichen Backgrounds wieder Schritt halten kann; ob es negative Erbschaftsteuern und ein umverteiltes Mindesterbe geben soll. Es ist richtig, dass eine kreditfinanzierte, stark staatlich gesteuerte Klimatransformation der Wirtschaft ein zentraler Baustein für künftige Wohlstandsniveaus darstellt, aber auch das wird sich nicht einfach durch Trickle-Down-Effekte verbreiten. Die Intervention zum Gaspreisdeckel, die Einführung des Mietendeckels in Berlin oder die Kopplung des Mindestlohns an die Eingangsstufe des öffentlichen Dienstes in Bremen sind Positivbeispiele, von denen gelernt werden muss.
Und drittens: Die Linke kann die Debatte darum, wer die Interessen der ressourcenschwächeren Gruppen vertritt, nur aus dem Beharren auf den Gleichheitsanspruch gewinnen. Das Bekenntnis zur Gleichheit ist traditionell die schärfste Provokation und der radikale Gegensatz zur „legitimen Ungleicheit“. Das schließt die Verteidigung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ebenso ein, wie konsequente Antidiskriminierungspolitik und die schwierige Aufgabe, auf die Herausforderung globaler Ungleichheit eine offensive, realistische und zumutbare Antwort zu finden.
Die Partei braucht einen klaren Schnitt mit dem raunenden Antikapitalismus und mit dem opportunistischen Versuch, Klassenbindung über das Andocken an Vorurteile, Ängste und rechte Illusionen zu simulieren. Die nachträgliche Bewertung, wo Maßnahmen in der Pandemie nicht mehr wissenschaftlich gerechtfertigt waren oder elementare Grundrechte unzulässig eingeschränkt haben, ist berechtigt. Aber das ändert nichts daran, dass globale Herausforderungen wie Pandemien starkes, schnelles, am Vorsichtsprinzip orientiertes staatliches Handeln erfordern. Die sozialen Verhältnisse sind seit Langem geprägt von neuen Spaltungslinien nach Stadt und Land, alten und neuen Qualifikationen, von fehlender sozialer Mobilität, rassistischer Einstellung und Intoleranz versus offene Gesellschaft, massiver Ungleichbehandlung und Ungleichbezahlung unterschiedlicher Tätigkeiten, demokratischer Unzugänglichkeit komplexer Entscheidungsfragen. Aber die wirksame und klassenbewusste Antwort darauf ist nicht „Schluss mit den Sanktionen“, „Genderverbot“ oder „Nieder mit der Gesundheitsdiktatur“, sondern Infrastrukturgarantien, Antidiskriminierungsgesetze, Bildungsreform, Arbeitsgesetze, Tarifbindung, öffentliche Diskussion.
4. Eine moderne Linke ist transformatorisch
Eine moderne Linke weiß, dass der Kapitalismus erstaunlich anpassungsfähig ist, aber sie hält eine Gesellschaftsform, in der über die großen produktiven Ressourcen privat entschieden wird, weder für zukunftsfähig noch für vereinbar mit den Ansprüchen linker Politik. Wir können uns den Weg zu notwendigen Veränderungen nicht beliebig „freikaufen“ in dem wir allen Bessergestellten, allen Unternehmen, allen Geschäftsmodellen durch staatliche Subventionen garantieren, dass sie so weitermachen können wie bisher. Das bürgerliche Recht macht es heute bei entsprechenden parlamentarischen Mehrheiten möglich, für die Transformation zur „Überlebensfähigkeit“ bereits jetzt sowohl Marktfreiheiten und Eigentumsrechte wie auch Reichtum zu beschränken und zielgerichtet zu regulieren, um ihn für die notwendigen Veränderungen zu mobilisieren. Aber das wird nur unter starken sozialen und gesellschaftlichen Kämpfen gehen, und nur mit der Perspektive, dass das diese Anpassungen keine Ausnahmen sind, sondern der Übergang zu etwas Neuem.
Wir können uns nicht den Luxus leisten, eine der Seiten des „strategischen Dreiecks“ (Widerstand und Protest, konkrete Mit- und Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinausweisende Alternativen) zu vernachlässigen oder geringzuschätzen, oder auf Kosten der anderen Seiten zu überhöhen. Die Kriterien nähern sich heute an. Unkritische Bewegungsbeteiligung ist nicht besser als unkritische Regierungsbeteiligung, und unkritische Systemalternativen im Zweifelsfall noch schlechter.
Wir erwarten vom kommenden Parteitag, dass er erkennbar und belastbar den Weg zu einer modernen, fortschrittlichen Linkspartei markiert und erste Schritte vornimmt.
Es spricht viel dafür, dass die wahlentscheidenden Themen der Bundestagswahl dieselben sein werden, wie bei der Europawahl. Damit gibt es fünf Bereiche, in denen wir es schaffen müssen, zu antworten – ohne Floskeln, ohne Selbstbeweihräucherung, ohne Widersprüche, ohne Geraune und ohne Wegducken. Der Bundesparteitag, das Wahlprogramm und die Reform des Grundsatzprogramms sind die Etappen. Die Zukunft der Partei Die Linke entscheidet sich nicht an der Fünfprozenthürde 2025, so wichtig dieses Ziel ist. Sie entscheidet sich an der Ernsthaftigkeit, mit der sie sich dafür entscheidet, eine moderne Linkspartei werden zu wollen.
Mit solidarischen Grüßen
Netzwerk Progressive Linke
Thomas Nord
Ich wurde am 19. Oktober 1957 in Berlin geboren. Im Osten Berlins ging ich bis 1974 zur Schule, wurde 1976 Maschinen- und Anlagenmonteur und war anschließend, nach vier Jahren bei der Volksmarine, bis 1984 Jugendklubleiter.
Zur selben Zeit absolvierte ich ein Studium als Kulturwissenschaftler. Politisch überzeugt war ich in hauptamtlichen Funktionen in der FDJ, dann in der SED tätig und ließ mich 1983 als IM des MfS verpflichten. Der demokratische Umbruch in der DDR im Jahre 1989 öffnete mir den Weg vom Parteikommunisten zum demokratischen Sozialisten. Der offene Umgang mit meiner Biografie und das anhaltende Hinterfragen auch persönlichen Versagens gehört seit 1990 dazu.
Dies führte zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus, unterstützt durch eine mich prägende Zusammenarbeit mit Stefan Heym, dessen Mitarbeiter ich 1994/95 sein durfte. Die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland ließ mich zunächst in der PDS, jetzt für DIE LINKE aktiv bleiben. Seit 1999 bin ich in Brandenburg aktiv. Dort war ich von Februar 2005 bis Februar 2012 Landesvorsitzender meiner Partei. 2009 wurde ich erstmals für DIE LINKE direkt, sowie 2013 und 2017 über die Landesliste erneut in den Bundestag gewählt. Seit 2012 bin ich Mitglied des Parteivorstandes und von 2014 bis Juni 2018 war ich Bundesschatzmeister meiner Partei.
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